Arbeitsrecht

Falle Massenentlassung – Erleichterung in Sicht?

- Achim Wurster

Um was geht es?

Müssen Unternehmen viele Arbeitsplätze abbauen, schreibt § 17 KSchG vor, dass bei Erreichen bestimmter Grenzen die Agentur für Arbeit durch die sog. Massenentlassungsanzeige von den geplanten Kündigungen rechtzeitig in Kenntnis gesetzt werden muss. Zusammen mit der Entlassungsanzeige müssen Arbeitgeber der Agentur für Arbeit auch nachweisen, dass sie den Betriebsrat beteiligt haben. Aufgrund der Entlassungsanzeige nutzt die Agentur für Arbeit alle Möglichkeiten, um möglichst schnell neue Beschäftigungsmöglichkeiten für die Betroffenen zu finden.

Bisherige Rechtsprechung bei Verstößen

Der für Kündigungen zuständige 2. Senat des BAG nimmt in seiner bisherigen Rechtsprechung an, dass Fehler im Verfahren im Zusammenhang mit Massenentlassungen zur Nichtigkeit der Kündigung führen. Der für Kündigungen in der Insolvenz zuständige 6. Senat des BAG war bisher ebenfalls dieser Auffassung. Dazu gehört auch die generelle Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG. Dementsprechend sind auch Kündigungen, bei denen eine Anzeige komplett unterblieben ist, unwirksam. Hier bestehen für Unternehmen erhebliche Risiken, da bei der Erstattung der Massenentlassungsanzeige viele Fehlerquellen lauern: hat man wirklich alle Arbeitnehmer erfasst? Was ist mit Leiharbeitnehmern? Ist der Betrieb zutreffend definiert? Sind die Informationen an den Betriebsrat ausreichend? Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen.

Als Begründung führte das BAG aus, dass den Vorschriften des § 17 KSchG ein individueller Schutz der Arbeitnehmer zugrunde liegt und diese daher den Kündigungsschutz verstärken.

EuGH zum Zweck der Massenentlassungsanzeige

Der EuGH hat mit Urteil vom 13. Juli 2023 (Az. C-134/22) entschieden, dass die Übermittlungspflicht nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern individuellen Schutz zu gewähren. Diese dient letztlich nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, um es der Agentur für Arbeit zu ermöglichen, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme zu suchen.

Kehrtwende beim BAG?

Auf Basis dieses Urteils kommt nun der 6. Senat des BAG zu der Auffassung, dass Fehler bei der Massenentlassungsanzeige künftig nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.

In den ausgesetzten Verfahren ging es um diverse Formverstöße gegen § 17 KSchG. In einem Verfahren enthielt die Massenentlassungsanzeige weder eine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats noch enthielt sie eine hinreichende Darlegung des „Stands der Beratungen“. Daher waren die Anforderungen des § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG bzw. des § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG nicht erfüllt (6 AZR 121/22).

In einem weiteren Verfahren erhielt die zuständige Agentur für Arbeit keine Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG (6 AZR 155/21). Im dritten Verfahren stellte der Insolvenzschuldner gar keine Massenentlassungsanzeige, weil er die nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgebliche Betriebsgröße als nicht erreicht ansah (6 AZR 157/22). Nach bisheriger Rechtsprechung wäre alle drei Kündigungen unwirksam. Der 6. Senat will diese Rechtsprechung nun aber korrigieren. Da der 6. Senat somit von der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats abweichen will, hat er den 2. Senat angefragt, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält. Wenn ja, müsste der Große Senat des BAG entscheiden. Bis dahin sind nun insgesamt drei Verfahren ausgesetzt (Az. 6 AZR 157/22 (B); 6 AZR 155/21 (B) und 6 AZR 121/22 (B)).

Folgen für die Praxis

Sollte sich der 2. Senat dem 6. Senat anschließen, würde jedenfalls eine nicht oder fehlerhaft erstattete Massenentlassungsanzeige nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Für Arbeitgeber könnte dies also das Risiko unwirksamer Kündigungen bei Massenentlassungsverfahren erheblich reduzieren. Aktuell liegen bisher nur Pressemitteilungen vor, sodass man bei der Beteiligung des Betriebsrats nach § 17 Abs.2 KSchG immer noch sehr genau und vorsichtig sein sollte. Denn insoweit lässt sich den Pressemitteilungen nichts entnehmen.

Sollte sich die Auffassung des 6. Senats durchsetzen, würde dies wieder eine Rückkehr zum ursprünglichen Ansatz der Massenentlassungsanzeige bedeuten: Denn § 17 KSchG sollte bei geplanten Massenentlassungen eine frühzeitige Information der Agentur für Arbeit sicherstellen, um Arbeitsförderungsmaßnahmen vorzubereiten. In der Praxis wurde § 17 KSchG in den letzten Jahren zu einer zunehmenden Falle für Arbeitgeber bei – ansonsten unzweifelhaft wirksamen – Kündigungen. Der Insolvenzverwalter von Air Berlin kann ein Lied davon singen. Das wäre zu begrüßen, wobei klar ist, dass Unternehmen sich davor hüten sollten, leichtfertig die sich aus § 17 KSchG ergebenden Pflichten schlicht zu ignorieren.

Achim Wurster

Achim Wurster

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Sozialrecht
Zertifizierter Fachexperte für betriebliche Altersversorgung (BRBZ e.V.)