Medizinrecht

Neue Maßstäbe in der ärztlichen Aufklärung?

Ein am 30. April 2015 verkündetes Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg (5 U 2282/13) stellt bislang weitgehend unbekannte Bezüge zwischen den in Medikamenten-Beipackzetteln beschriebenen Risiken und der ärztlichen Risikoaufklärung her. Wenngleich das Urteil inhaltlich nicht überzeugt, sind dennoch Maßnahmen zur Vermeidung von Haftungsfallen zu ergreifen.

Sachverhalt

In dem zu entscheidenden Sachverhalt hatte sich eine Patientin zur Hüftprothesen-Wechseloperation in eine Klinik begeben. Im Rahmen der Aufklärung wurde sie auf Komplikationen, wie etwa „seltene Nervverletzungen“, hingewiesen. Der sodann durchgeführte Eingriff verlief zunächst ohne Komplikationen. Postoperativ fiel bei der Klägerin aber eine Fußheber- und Kniestreckerschwäche links auf. Tatsächlich hatte sich eine Dislokation des künstlichen Hüftgelenkes eingestellt. Bei der Revision wurde vermerkt, „dass ein Pfannendachfragment im Bereich des nervus ischiadicus frakturiert und disloziert gewesen sei“. Auch eine Schädigung des nervus ischiadicus mit langwieriger ungünstiger Prognose wurde festgestellt.

Die klagende Patientin rügte (u.a.) eine fehlerhafte Risikoaufklärung. Aufgrund der nur oberflächlichen Aufklärung zur Nervschädigung habe sie sich kein Bild von der Schwere der möglicherweise eintretenden Schäden machen können.

Die Entscheidung des OLG

Das Oberlandesgericht Nürnberg gab der klagenden Patientin Recht. Nach Ansicht des Senats liegt ein Aufklärungsfehler vor, wenn sich die bei der präoperativen Aufklärung aufgezeigte Komplikationsdichte nicht an der Häufigkeitsdefinition des Medical Dictionary for Regulatory Activities (medDRA), die in Medikamenten-Beipackzetteln Verwendung findet, orientiert. Die Frage nach der Komplikationsdichte sei gerade bei nicht vital indizierten Eingriffen für den Patienten von großer Bedeutung. Wie das Oberlandesgericht Nürnberg feststellt, müsse sich ein Arzt bei der Aufklärung in Bezug auf die Einstufung von Risiken als „selten“ oder „sehr selten“ an den Definitionen in Medikamentenbeipackzetteln orientieren, weil diese weithin bekannt seien. Daher „muss angenommen werden, dass Häufigkeitsangaben, die in Aufklärungsbögen verwendet werden, mangels gegenteiliger Hinweise ebenso verstanden werden, wie sie in den Medikamentenbeipackzetteln ausdrücklich definiert werden. Es ist nicht ersichtlich, was einen Patienten zu der Annahme veranlassen sollte, die in standardisierten Aufklärungsbögen verwendeten Häufigkeitsangaben seien völlig anders zu verstehen als solche in Beipackzetteln für Arzneimitteln“ (OLG Nürnberg, Urteil vom 30. April 2015 – 5 U 2282/13, Rn. 36).

Im zu entscheidenden Fall war das Risiko der Nervschädigung als „selten“ bezeichnet worden. Nach den Häufigkeitsangaben der medDRA liegt das Risiko einer Schädigung bei „seltenen Risiken“ lediglich bei 0,1 bis 1,0 Promille. Die Nervschädigungsquote bei Hüftgelenkswechseloperationen lag nach den gerichtlichen Feststellungen aber bei ca. 0,8 Prozent, und damit weit außerhalb der seltenen Risiken im Sinne der medDRA. Somit – so die Richter – sei das Risiko der Nervverletzung verharmlost worden und die Aufklärung fehlerhaft.

Handlungsempfehlung

Das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg ist bezüglich den Einschätzungen zur medDRA unzutreffend, weil es die Risiken des ärztlichen Handelns mit denen der Medikamentenversorgung gleichsetzt. Hierfür besteht kein sachlicher Grund. Zum einen dürften die wenigsten Patienten die Risikoklassen der medDRA kennen. Zum anderen ist die Dichte der mit medizinischen Eingriffen verbundenen Risiken nicht exakt bestimmbar. Um hier Fehler bei der Aufklärung zu vermeiden, wird man künftig aber darauf hinweisen müssen, dass die Häufigkeitsangaben der ärztlich beschriebenen Risiken nicht denen in Medikamentenbeipackzetteln entsprechen.

Für Rückfragen steht Ihnen Herr Rechtsanwalt Dr. Matthias Müller, Dipl.-Verwaltungswirt (FH), Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Fachanwalt für Medizinrecht, gerne zur Verfügung.