Erbrecht

Der Bundesgerichtshof erkennt den Pflichtteilsergänzungsanspruch auch für Schenkungen des Erblassers vor der Geburt des Pflichtteilsberechtigten an

- Armin Abele

In seinem Urteil vom 23.5.2012 - IV ZR 250/11 hat der BGH eine grundlegende Wendung im Pflichtteilsergänzungsrecht vollzogen. Es können bei der Pflichtteilsergänzung nun auch solche Zuwendungen berücksichtigt werden, zu deren Zeitpunkt der Pflichtteilsberechtigte noch gar nicht pflichtteilsberechtigt war. Bislang war es so, dass der BGH eine Doppelberechtigung für die Zubilligung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs voraussetzte (Urteile vom 21. Juni 1972 – IV ZR 69/71, BGHZ 59, 212, und vom 25. Juni 1997 – IV ZR 233/06, ZEV 1997, 373). Nicht nur zum Zeitpunkt des Erbfalls musste damit eine Pflichtteilsberechtigung dem Grunde nach bestehen, sondern auch schon zum Zeitpunkt der Zuwendung, wenn wegen dieser ein Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend gemacht wurde.

Dies ist nun anders. Es kommt jetzt nach der Ansicht des BGH nur noch darauf an, dass eine Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalls bestand und im Übrigen die Voraussetzungen für eine Pflichtteilsergänzung (s.u.) vorliegen.

Beispiel: Erblasser E macht seiner zur Alleinerbin eingesetzten Frau F eine Zuwendung über 100.000,00 € vor der Geburt seines Sohnes S. Nach dem Tod von E verlangt S seinen Pflichtteil. Bislang führte die Zuwendung an F nicht zu einem Pflichtteilsergänzungsanspruch für S, da er zum Zeitpunkt der Zuwendung noch nicht lebte und deshalb in den Augen des BGH nicht schutzbedürftig war. Nach der neuen Entscheidung kann S nun wegen dieser Zuwendung Pflichtteilsergänzung verlangen.

Hintergrundwissen: Was ist eigentlich ein Pflichtteilsergänzungsanspruch?

Der Gesetzgeber sieht vor, dass bestimmte Angehörige (Pflichtteilsberechtigte) im Erbfall nicht leer ausgehen dürfen und eine Mindestbeteiligung vom Nachlass zu bekommen haben, ob es dem Erblasser nun gefällt oder nicht. Zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehören enterbte Abkömmlinge, Ehegatten oder Eltern des Erblassers, wenn es keine Abkömmlinge gibt. Sie erhalten einen Zahlungsanspruch im Werte der Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Sprich, die Pflichtteilsberechtigten bekommen wertmäßig einen Bruchteil von dem, was zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers in seinem Vermögen vorhanden ist. Wird bereits vor dem Tod des Erblassers Vermögen ohne Gegenleistung beiseite geschafft, sind der Nachlass und damit der Pflichtteil geringer. Um den Pflichtteilsanspruch nicht unterlaufen zu können, hat deshalb der Gesetzgeber den Pflichtteilsergänzungsanspruch (§ 2325 BGB) geschaffen. Gab es innerhalb einer bestimmten Frist (in der Regel 10 Jahre) vor dem Erbfall unentgeltliche Zuwendungen des Erblassers an Dritte, werden diese Zuwendungen zur Pflichtteilsberechnung gedanklich wieder in den Nachlass gezählt, um den Pflichtteil zu berechnen. Dieser gedankliche Pflichtteil wird mit dem tatsächlichen Pflichtteil verglichen. Die Differenz wird Pflichtteilsergänzung genannt. Hierbei ist zu beachten, dass seit dem Jahr 2010 ein Abschmelzungsmodell eingeführt wurde. Die um die Inflationsrate bereinigten Zuwendungen werden nicht mit dem vollen Wert in den Nachlass gerechnet, sondern nur anteilig. Für jedes Jahr, das zwischen Zuwendung und Erbfall liegt, werden 10 % des Wertes in Abzug gebracht.

Beispiel: Der verwitwete Erblasser E schenkt seinem Freund F, den er auch  zu seinem Alleinerben einsetzt,  2 Jahre und 1 Monate vor seinem Tod 100.000,00 €. Der Sohn S des E wird enterbt. Der Nachlasswert beträgt 100.000,00 €. S kann nun, da er gesetzlicher Alleinerbe geworden wäre,  50.000,00 € Pflichtteil und (ohne Inflationsausgleich) eine Pflichtteilsergänzung von 40.000,00 € (80 % von 100.000,00 €) verlangen.

Expertentipp: Die 10-Jahresfrist und damit auch das Abschmelzungsmodell gelten bei Zuwendungen unter Ehegatten oder bei Zuwendungen unter Nutzungsvorbehalt (Nießbrauch, Wohnungsrecht) nicht!

Armin Abele

Armin Abele

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Erbrecht