Arbeitsrecht

Die Vertretungsbefristung und deren Missbrauch

- Dr. Stefan Rein

Seit Mitte 2012 verlangt das Bundesarbeitsgericht innerhalb der Befristungskontrolle zudem eine Missbrauchskontrolle. An sich gerechtfertigte Vertretungsbefristungen sollen bei längerer Gesamtbefristungsdauer im Wege sogenannter Kettenbefristungen im Einzelfall missbräuchlich und damit unwirksam sein können. Rechtsfolge hiervon wäre – wie bei jeder anderen unwirksamen Befristung auch – die Begründung eines dann auf unbestimmte Zeit eingegangenen Arbeitsverhältnisses. Die hierzu zuletzt ergangene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom 29. April 2015 liefert zwar noch immer keine konkrete Antwort auf die Frage, ab welcher Gesamtbefristungsdauer denn nun von einem solchen Gestaltungsmissbrauch auszugehen ist. Sie gibt jedoch Anhaltspunkte wenigstens dafür, welche „besonderen Umstände“ gegen einen bereits vermuteten Missbrauch sprechen sollen.

Der Sachgrund der Vertretung zur Rechtfertigung eines befristeten Arbeitsverhältnisses

Die Befristung eines Arbeitsvertrags ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ein sachlicher Grund liegt u.a. dann vor, wenn der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers beschäftigt wird. Der die Befristung rechtfertigende sachliche Grund liegt in Fällen der Vertretung darin, dass für die Wahrnehmung der Arbeitsaufgaben durch eine Vertretungskraft von vornherein nur ein zeitliches Bedürfnis besteht, weil der Arbeitgeber an den vorübergehend ausfallenden Mitarbeiter, dem die Aufgaben an sich obliegen, rechtlich gebunden ist und er mit dessen Rückkehr rechnet. Dementsprechend stellen beispielsweise auch die gesetzlichen Bestimmungen zur Elternzeit ausdrücklich klar, dass ein sachlicher Grund, der die Befristung eines Arbeitsverhältnisses rechtfertigt, vorliegt, wenn ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers oder einer anderen Arbeitnehmerin für die Dauer eines Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz, einer Elternzeit, einer auf Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder einzelvertraglicher Vereinbarung beruhenden Arbeitsfreistellung zur Betreuung eines Kindes oder für diese Zeiten zusammen oder für Teile davon einschließlich notwendiger Zeiten einer Einarbeitung eingestellt wird (§ 21 Abs. 1 und 2 BEEG).

Dabei steht ein ständiger betrieblicher Vertretungsbedarf dem Vorliegen eines solchen Sachgrunds nicht entgegen. Es braucht insbesondere keine besondere Personalreserve (aus unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern) hierfür vorgehalten zu werden. Und allein schon die „große Anzahl“ der mit einem Arbeitnehmer abgeschlossenen befristeten Arbeitsverträge oder die Gesamtdauer der „Befristungskette“ führen auch nicht dazu, dass an den Sachgrund der Vertretung strengere Anforderungen zu stellen sind.

Die zusätzliche Missbrauchskontrolle

Die Gerichte, so das Bundesarbeitsgericht bereits in seinen Entscheidungen vom 18. Juli 2012, sollen sich bei der Befristungskontrolle jedoch nicht auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds der Vertretung beschränken dürfen. Sie müssen vielmehr zusätzlich alle Umstände des Einzelfalles prüfen und dabei namentlich die Gesamtdauer und die Zahl der mit derselben Person zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen. Die – widerlegbare – Vermutung eines solchen Missbrauchs bejahte das Bundesarbeitsgericht sodann bei einer Gesamtbefristungsdauer von mehr als elf Jahren durch insgesamt 13 Befristungen (BAG 18.07.2012 – 7 AZR 443/09) und verneinte sie indes noch bei einer Gesamtdauer von (lediglich) sieben Jahren und neun Monaten durch insgesamt vier Befristungen (BAG 18.07.2012 – 7 AZR 783/10), ohne sich dabei freilich festzulegen, wo sich die „Missbrauchsschwelle“ nun genau befindet. Fest steht damit bislang nur, dass sie irgendwo dazwischen zu liegen hat.

Der vermutete Missbrauch bei einer „Vervielfachung“ der gesetzlichen Grenzwerte für sachgrundlose Befristungen

Die von der Praxis zur Erreichung diesbezüglicher Rechtssicherheit erhoffte Konkretisierung des Punkts des Überschreitens der „Missbrauchsschwelle“ gab es auch in der jüngsten hierzu ergangenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 29. April 2015 nicht. War zwischenzeitlich noch von den Instanzgerichten der Versuch unternommen worden, diese festzulegen, indem ein solcher Missbrauch – beispielsweise – bei einer – warum auch immer – kumulativen Verdreifachung der Grenzwerte des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG, also bei einer mehr als sechsjährigen Gesamtbefristungsdauer und mehr als neun Verlängerungen, vorliegen soll (so ArbG Freiburg 16.12.2014 – 4 Ca 339/14), sieht die höchstrichterliche Rechtsprechung nunmehr vielsagend einen Missbrauch bei einer „Vervielfachung“ bzw. „erheblichen Überschreitung“ der gesetzlichen Grenzwerte für sachgrundlose Befristungen erreicht, wobei dafür bereits die alternative „Vervielfachung“ genügen soll (BAG 29.04.2015 – 7 AZR 310/13).

Die Widerlegung eines Missbrauchs durch Darlegung „besonderer Umstände“

Dem Arbeitgeber obliegt es dann, wenn ihm ein solcher Missbrauch unterstellt wird, diese Vermutung zu widerlegen. Hierzu hat er „besondere Umstände“ vorzutragen. Ein solcher besonderer Umstand soll u.a. darin liegen, ob die Vertretungskraft zur ausschließlichen Vertretung einer bestimmten Stammkraft eingestellt wird oder ob nicht doch ein ständiger und dauerhafter Vertretungsbedarf für die von der Stammkraft ausgeübte Funktion besteht, was wohl nur beim Fehlen mehrerer Inhaber dieser Funktion der Fall sein soll. Klargestellt wurde zudem, dass keine Pflicht zur Versetzung der Stammkraft bestehe, um dadurch für die Vertretungskraft eine dauerhafte Beschäftigungsmöglichkeit auf der bisherigen Stelle der Stammkraft zu schaffen. Dass dieser Einwand ohnehin nicht überzeugen konnte, liegt auf der Hand: Anderenfalls müsste der Arbeitgeber eine andere Stelle für die Stammkraft freihalten und könnte daher auf dieser Stelle Arbeitnehmer nur befristet beschäftigen, oder er müsste eine zusätzliche Stelle überhaupt erst schaffen, auf der dann die Stammkraft beschäftigt werden könnte. Hierzu sei der Arbeitgeber jedoch (nach wie vor noch) nicht verpflichtet.

Fazit

Der Umstand, dass der Arbeitgeber gezwungen ist, wiederholt auf befristete Arbeitsverträge zurückzugreifen, um eine bestimmte Stammarbeitskraft stets für die Dauer ihres jeweils mitgeteilten Ausfalls zu vertreten, kann demnach keinen Missbrauchsfall darstellen. Letztlich kann es aber keinen Unterschied machen dürfen, wenn die wiederholten, dann regelmäßig wohl auch nicht ununterbrochenen Arbeitsverhältnisse der Vertretung verschiedener Arbeitnehmer für die Dauer ihrer jeweiligen Verhinderungen dienen sollen, erst recht nicht, wenn auch hier die Befristungen jeweils auf § 21 Abs. 1 und 2 BEEG beruhen. Bei einem „ständigen und dauerhaften Vertretungsbedarf“ im Betrieb dürfte, soweit dieser nicht ausnahmsweise immer nur nacheinander entstehen soll, dessen Abdeckung durch ein und dieselbe Arbeitskraft schon gar nicht möglich sein und daher auch nicht in Betracht kommen können.

Dr. Stefan Rein

Dr. Stefan Rein

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht